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DiGA-Fast Track – Blueprint für Digitalturbo in Europa?

Geschrieben von ursula.kramer am Dienstag, 14. März 2023 - 16:28
DiGA-Fast Track – Blueprint für Digitalturbo in Europa?

Deutschland inspiriert mit dem Digitalisierungsbeschleuniger „DiGA“ andere Länder in Europa (1), und produziert in Frankreich und Belgien (mHealthBelgium) bereits Nachahmer (2,3). Das klingt für unsere Ohren merkwürdig: Deutsche Digitalisierungsinitiativen als Blaupause? Wo doch hierzulande in der DiGA-Diskussion sehr stark auf das fokussiert wird, was noch nicht perfekt läuft in Sachen „App auf Rezept“: Nicht genug Evidenz, zu hohe Preise, zu wenig Verordnungen (4,5,6). Das verstellt den Blick auf das eigentlich Großartige: Deutschland ebnet als erstes Land der Welt digitalen Therapien den Weg in die Regelversorgung. Ein Grund zur Freude – in erster Linie für alle Patienten in Deutschland und in allen anderen Ländern, die nach dem Beispiel von Deutschland DiGA-Wege für sich entwickeln werden. Und auch die mutigen Strategen dürften sich bestätigt fühlen. Das Wagnis, das mit dem Digitale-Versorgung Gesetz (DVG) digitale Therapien schon in der Phase der Evidenzgenerierung den Weg in die Patientenversorgung und die Kassenerstattung geöffnet hat, scheint geglückt.

DiGA-Vorreiterrolle - eine deutsche Erfolgsstory?

  • Die Bilanz nach mehr als 2 Jahren: Heute gibt es für Patienten 16 digitale Therapieangebote, deren Patientennutzen als nachgewiesen gilt, weitere 26 digitale Therapieangebote sind derzeit in Erprobung (7).
  • Die Domäne der DiGAs ist die kognitive Verhaltensänderung, d. h. die meisten Apps auf Rezept helfen Patienten dabei, die häufig psychisch belastenden Symptome ihres Krankheitsbildes durch eigenes Zutun besser zu bewältigen. Unter den digitalen Therapien dominieren die sog. „F-Diagnosen“ - psychische Erkrankungsbilder (8).
  • Die prognostizierte Kostenlawine (6) ist ebenso ausgeblieben, wie Meldungen über Datenschutzskandale oder über Patienten, die durch die Nutzung von DiGAs zu Schaden gekommen sind. Die Hürden für den Markteintritt von DiGAs scheinen hoch genug zu sein, um mit der Medizinprodukte-Zertifizierung die Spreu vom Weizen zu trennen und einen gewissen Qualitäts- und Sicherheitsstandard zu garantieren. Durch die Beschränkung auf digitale Medizinprodukte niedriger Risikoklassen (I, IIa) hat der Gesetzgeber ein weiteres „Sicherheitsnetz“ eingezogen. Denn anders als Arzneimittel, wirken diese Medizinprodukte ausschließlich durch aktives Zutun ihrer Anwender. Unerwünschte Wirkungen, die die Patientensicherheit gefährden, sind damit nicht zu erwarten, die Risiken von Apps auf Rezept damit sehr überschaubar.

Welchen Weg geht Frankreich, um Innovationsführer zu werden?

Frankreich hat sich viel vorgenommen und will treibende Kraft in Europa werden, wenn es um den einfachen Marktzugang für digitale Innovationen geht (9). Mit den Erfahrungen, die Deutschland in mehr als zwei Jahren mit dem DiGA-Fast-Track gemacht hat, erlaubt sich Frankreich vorsichtige Lockerungen:

  • Frankreich macht den DiGA-Weg frei für alle digitalen Medizinprodukte unabhängig von ihrer Risikoklasse. Auch digitale Therapien mit hohem Risiko können den DiGA-Weg gehen.
  • Auch der Nutzenfokus wird erweitert. Neben dem direkten Nutzen für den Patienten, dem patientenrelevanten Nutzen, soll auch der Nutzen für die Praxis bzw. Einrichtung in die Evaluation mit einbezogen werden einschließlich der Einsparpotentiale durch Senkung der Behandlungskosten. Das dürfte die Akzeptanz bei Verordnern erhöhen und damit vermutlich auch deren Bereitschaft, DiGAs zu verordnen.
  • Zu den digitalen Innovationen, deren Marktzugang man beschleunigen will, zählen in Frankreich neben Apps auch telemedizinische Dienste. In fünf Therapiegebieten wird die telemedizinische Betreuung gefördert, es gibt insgesamt 55 Angebote, die bereits erstattet werden, z. B. in der Nachsorge von Lungenkrebspatienten (10) oder bei Herzinsuffizienz, Niereninsuffizienz, Diabetes oder zur Überwachung kardialer Implantate.
  • In der Phase der Evidenzgenerierung werden die Kosten für die Nutzung der App für die Studienteilnehmer übernommen. Das Studienkonzept ist Teil der Antragstellung. Die Kosten der eigentlichen klinischen Studie übernimmt der Hersteller.
  • Eine Verlängerung des Erprobungszeitraums zu Generierung der Evidenz über 12 Monate hinaus soll in Frankreich nicht möglich sein. Eine DiGA fällt aus der Erstattung, wenn die Nachweise nach 12 Monaten nicht geliefert werden, sie kann erneut einen Antrag stellen, wenn die Evidenznachweise vorliegen.
  • Und Frankreich nimmt in Richtung Harmonisierung der Evaluation von digitalen Interventionen das Heft in die Hand. Eine Task Force soll darauf hinarbeiten, dass der Nutzennachweis, der in einem europäischen Land erbracht wird, in allen anderen Ländern der EU anerkannt wird. Das würde enorme Kosten einsparen und den Marktzugang für DiGA-Anbieter in Europa erleichtern. Die European Digital Medical Device (DMD) Taskforce, angeführt von Frankreich, stellt u. a. auf der Plattform „G_NIUS“ (https://gnius.esante.gouv.fr/en/international-digital-health-systems) (9) zusammen, wie digitale Innovationen in den unterschiedlichen europäischen Märkten Zugang zur Patientenversorgung erhalten. Bringt sich Frankreich als europäisches Land für den primären Marktzugang für Startups in Stellung?
  • Die Harmonisierungsbemühungen sind grundsätzlich zu begrüßen, die die Hürden durch nationale Ansätze konstruktiv auflösen. In Deutschland fordert das BfArM z. B. explizit, dass die Studien zum Nutzennachweis die Versorgungsrealität in Deutschland berücksichtigen, d. h. werden Studien in anderen Gesundheitssystemen durchgeführt, muss nachgewiesen werden, dass die Versorgungsrealität dort eine vergleichbare ist, was schwierig ist. Ein europäisches Framework, ähnlich dem Framework vom NICE-Institut in England (11) würde dieses Problem der begrenzten Vergleichbarkeit der Versorgungskontexte nicht lösen.

Wie bahnt Belgien digitalen Innovationen den Weg in die Patientenversorgung?

  • Die erste App, die im April 2022 in Belgien erstattet worden ist, heißt moveUP (12) und ist eine Reha-App. Damit eine App erstattungsfähig ist, muss sie zertifiziertes Medizinprodukt sein, gesundheitsbezogene Daten, die der Patient erfasst, mit Therapeuten teilen können, und Therapeuten müssen anhand dieser Daten mit der App die Diagnose, Therapie online verfolgen und ggfls. adaptieren können.
  • Auch in Belgien können Apps, die ihren Nutzen noch nicht abschließend nachgewiesen haben, erstattet werden, d. h. auch dort gibt es eine Erprobungsphase. Auf einer dreistufigen Evaluations-Pyramide werden die Angebote kategorisiert, die Apps aus der Stufe 3+ sind dauerhaft erstattungsfähig (13).
  • Ob und wie hoch eine App erstattet wird, hängt vom Versorgungskontext ab, nicht eine App als Einzelbaustein wird erstattet, sondern die App als Teil eines Versorgungskonzeptes. Die Honorierung der Leistungsbestandteile wird unter Umständen angepasst, wenn sich der Prozess durch Nutzung der App verändert.
  • Über die mHealthBelgium Plattform erhalten Verordner Informationen über das App-Angebot und das Evidenzniveau dieser Apps (14).

FAZIT

Der DiGA-Weg – gebahnt durch das Digitale Versorgung-Gesetz (DVG) (15) fügt sich strategisch klug in das große Digitalisierungsbild der Gesundheitsversorgung in Deutschland ein. Mit dem Patientendatenschutzgesetz (PDSG) (16), dem Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) (17), dem Digitale Versorgung und Pflegemodernisierungsgesetz (DVPMG) (18) und in Kürze dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) (19) sowie dem Digitalgesetz (19) werden die Konturen der Digitalisierungsstrategie (20) immer klarer. Auch ohne visionäre Vorstellungskraft wird erkennbar, wohin die Reise geht: Gesundheitsdaten sollen nicht nur in der Lebenswelt der Patienten sowie in den medizinischen Versorgungsprozessen erhoben werden. Der Patient hat ein Anrecht darauf, dass diese Daten auch genutzt werden, um daraus Entscheidungen abzuleiten für eine bessere gesundheitliche Daseinsfürsorge und eine leistungsfähige Versorgungsforschung. Was macht uns krank, was hält uns gesund, wer profitiert von welcher Therapie, wer nicht, welche Präventions- und Behandlungsstrategien haben den größten Nutzen? Auf diese Fragen sollen wir in einem digitalisierten Versorgungsumfeld präzisere Antworten finden. Nicht nur die Sektorengrenzen innerhalb unseres Gesundheitssystems verschwimmen, sondern auch die nationalen Grenzen zu den Gesundheitssystemen unserer europäischen Nachbarn schmelzen perspektivisch zusammen. Wir arbeiten hin auf einen europäischen Gesundheitsdatenraum (21), der uns bessere Antworten finden lässt auf die vielen Herausforderungen an eine patientenorientierte Präventions- und Versorgungsstrategie, damit Qualitätsmedizin auch in Zukunft bezahlbar und in den solidarischen Gesundheitssystemen Europas für alle Bürger zugänglich bleibt.

Quellen:

  1. https://eithealth.eu/news-article/towards-harmonised-eu-landscape-for-digital-health-summary-of-the-roundtable-discussions-in-selected-innostars-countries-a-new-study/
  2. https://www.healthxl.com/blog/the-101-on-the-new-french-reimbursement-pathway?utm_campaign=Weekender_26Feb_Public_Niamh&utm_medium=email&utm_source=Mailjet
  3. mHealthBelgium: https://mhealthbelgium.be/news/persbericht-duidelijk-financieringskader-nodig-voor-doorbraak-medische-apps-in-belgie-4
  4. Drei von vier digitalen Gesundheitsan­wendungen haben ihren Nutzen bislang nicht belegt. Ärzteblatt https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/132169/Drei-von-vier-digitalen-Gesundheitsanwendungen-haben-ihren-Nutzen-bislang-nicht-belegt
  5. KBV Gutachten DiGA. https://www.kvb.de/fileadmin/kvb/V10/Mitglieder/Praxisfuehrung/Praxis-IT/KVB-Gutachten-210722-DiGAs-Bewertung.pdf
  6. Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) im Portal kvappradar.de. https://healthon.de/blogs/2021/10/06/ein-jahr-diga-verzeichnis-erfolg-oder-ernuechterung
  7. DiGA-Dashboard: https://healthon.de/diga-dashboard
  8. DiGA-Radar: https://healthon.de/diga-radar
  9. https://gnius.esante.gouv.fr/en/international-digital-health-systems
  10. Moovcare - App zur Nachsorge von Lungenkrebs https://www.moovcare.com/
  11. NICE-Evicenc standards framework (ESF) for digital health https://www.nice.org.uk/about/what-we-do/our-programmes/evidence-standards-framework-for-digital-health-technologies
  12. https://mhealthbelgium.be/apps/app-details/moveup-coach
  13. Belgium Validation pyramid for mobile medical applications https://mhealthbelgium.be/validation-pyramid
  14. https://mhealthbelgium.be/apps
  15. Digitale-Versorgung Gesetz https://www.bundesgesundheitsministerium.de/digitale-versorgung-gesetz.html
  16. Patientendatenschutzgesetz PDSG https://www.bundesgesundheitsministerium.de/patientendaten-schutz-gesetz.html
  17. Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG): https://www.bundesgesundheitsministerium.de/krankenhauszukunftsgesetz.html
  18. Digitale–Versorgung–und–Pflege–Modernisierungs–Gesetz (DVPMG)  https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/gesetze-und-verordnungen/guv-19-lp/dvpmg.html
  19. aerzteblatt.de Gesundheitsdatennutzungsgesetz: Lauterbach will „Turboschub“ für die Forschung https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/141552/Gesundheitsdatennutzungsgesetz-Lauterbach-will-Turboschub-fuer-die-Forschung
  20. Bundesgesundheitsminister legt Digitalisierungsstrategie vor: „Moderne Medizin braucht digitale Hilfe“ https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen/digitalisierungsstrategie-vorgelegt-09-03-2023.html
  21. Europäischer Raum für Gesundheitsdaten (EHDS) https://health.ec.europa.eu/ehealth-digital-health-and-care/european-health-data-space_de
Kategorie

HealthOn - Experten in Sachen Digital Health

Dr. Ursula Kramer - Die Ap(p)othekerin bloggt auf HealthOn

DiGA-Expertin, Autorin, Beraterin

Die Vision eines gerechten, patientenorientierten Gesundheitssystems treibt die Ap(p)othekerin Dr. Ursula Kramer an. Digitalisierung sieht sie als Möglichkeit, diesem Ziel näher zu kommen. Seit 2011 testet sie Qualität, Sicherheit und Anwenderfreundlichkeit von Gesundheits-Apps, Medizin-Apps und Apps auf Rezept (DiGA). Sie will Transparenz schaffen und digitale Gesundheitskompetenz fördern. Sie teilt die Erfahrung aus der Analyse vieler tausender Gesundheits-Apps in der Beratung von Unternehmen, sie schreibt darüber im Blog auf HealthOn, hält Vorträge und erstellt wissenschaftliche Publikationen. Mehr zur Ap(p)othekerin Dr. Ursula Kramer...