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DiGAs - Lückenfüller, Brückenbauer, Digitalisierungs-Booster?

Geschrieben von ursula.kramer am Donnerstag, 23. Februar 2023 - 11:48

DiGAs füllen Lücken, die kein Arzt schließen kann - sie unterstützen Patienten dabei, besser mit den Belastungen einer Krankheit in ihrem Alltag zurechtzukommen. Auch wenn erst 42 digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) als App auf Rezept verfügbar sind (1), und vieles noch nicht rund läuft (2), so lässt sich doch feststellen, dass Deutschland in Sachen Digitale Gesundheit eine Vorreiterrolle eingenommen hat. In keinem anderen Land der Erde sind digitale Therapien als „Apps auf Rezept“ oder „DiGAs“ seit mehr als 2 Jahren Bausteine in der Regelversorgung (3). Ein Land der Datenschützer und Perfektionisten geht voran, wagt sich an neue Prozesse des Markteintritts und neue Methoden der Evidenzgenerierung im sog. „Fast Track-Verfahren“ für digitale Innovation -  für viele ist das eine echte Überraschung, für andere ein konsequenter Schritt aus der Not heraus geboren: Denn Kostendruck, Bürokratie und demographischer Wandel lassen die Gesundheitsversorgung – nicht nur hierzulande, sondern weltweit – straucheln (4). Das ruft nach Lösungen, die mehr Effizienz und mehr Patientenorientierung schaffen und den Fokus stärke als bisher auf Krankheitsvermeidung statt Krankheitsbehandlung. Das Interesse in Europa für den DiGA-Sonderweg Deutschlands, der die Nutzung digitaler Therapien in die Patientenversorgung fördern will, ist daher groß (5).

DiGAs befähigen Patienten, Krankheitsalltag besser zu bewältigen

Gesetzlich und privat Versicherte können eine digitale Therapie (DTx) auf ihrem Smartphone oder am Computer nutzen - zuhause, auf Reisen, auf dem Weg zur Arbeit und ohne den Umweg über das Wartezimmer eines Therapeuten. Die Krankenkasse übernimmt dafür die Kosten (2). Die digitalen Therapien schließen auf diese Weise eine Lücke, die kein Arzt und kein Arzneimittel füllen kann:

  • Sie befähigen die Patienten im Alltag zur Selbsthilfe, sie unterstützen sie dabei, besser klarzukommen mit ihren chronischen Erkrankungen.
  • Sie setzen dort an, wo die meisten chronischen Erkrankungen ihren Anfang nehmen, bei den individuellen Verhaltensmustern von Patienten. Denn: In der Regel kommt weder Arzt noch Psychotherapeut alleine mit Arzneimitteln weiter, die Mitwirkung und das aktive Zutun des Patienten sind für den Behandlungserfolg in den allermeisten Fällen zentral. Gelingt es durch digitale Unterstützung die Selbstbefähigung zu stärken und auf diesem Weg Belastungen im Alltag zu lindern und die Lebensqualität von Betroffenen zu verbessern, heißt das für Patienten mehr individuelle Versorgungsqualität, aber nicht nur das.

Digitale Therapien – enormes Potential für die Versorgung einer ganzen Gesellschaft

Sieht man DiGAs als Bausteine einer integrierten, digitalisierten Versorgung, die angedockt werden können und sollen an die elektronische Patientenakte (6), dann eröffnet sich eine viel größere Dimension, schlagen quasi für die gesamte Zivilgesellschaft eine Brücke in eine bessere Versorgung: Besser verstehen, was Patienten individuell weiterhilft und was ihre Belastungen verstärkt, prognostizieren können, welche Patienten vermutlich von einer Therapie besonders profitieren, Aussagen treffen können über Krankheitsprogression, Risikofaktoren und Morbidität differenziert nach Patientensubgruppen – das alles verbessert die gesundheitspolitischen Steuerungsmöglichkeiten und damit die bessere Verteilung der Ressourcen.
Mit jeder neuen DiGA, die ein weiteres Krankheitsbild in den Fokus nimmt, bauen wir an einem Stück Zukunft auf dem Weg in Richtung einer patientenorientierteren, digitalisierten Gesundheitsversorgung. Endlich verschwinden die individuellen Rückmeldungen zu Wirksamkeit und Verträglichkeit von Therapien nicht in den Patientenakten aus Papier oder in den Silos der vielen verschiedenen Praxissoftware-Systeme, sondern können in elektronischen Patientenakten systematisch erfasst und ausgewertet werden. 

Evidenzbasis der medizinischen Versorgung wird breiter  

Denn nicht nur in Deutschland, sondern weltweit, explodieren die Behandlungskosten für Diabetes, Adipositas, Krebs, degenerative Rücken- und Gelenkerkrankungen (4). Dort anzusetzen, wo die Ursachen von Krankheiten ihren Anfang nehmen, beim Verhalten des Patienten selbst, und Patienten zu befähigen, die Möglichkeiten der Selbsthilfe zu stärken, nicht größer, aber auch nicht kleiner ist der Beitrag digitaler Therapien zur disruptiven Veränderung der Gesundheitsversorgung bis zum Shift von einem kurativen zu einem präventiven Versorgungsansatz. Durch die rasante Entwicklung der technischen Möglichkeiten, z. B. den Einsatz von Methoden der künstlichen Intelligenz (KI), ersteht aus den vielen medizinischen Behandlungsdaten und den Daten, die Patienten und Bürger mit Sensoren in digitalen Anwendungen selbst aus ihrer Lebenswirklichkeit erfassen, ein Bild von Gesundheit bzw. Krankheit, das noch nie so ganzheitlich die Einflussfaktoren abgebildet hat.

Ohne breite Nutzung der elektronische Patientenakte kein Digitalisierungs-Booster

Das setzt voraus, dass möglichst viele Patienten mitmachen, eine elektronische Patientenakte nutzen und die dort erfassten Behandlungsdaten für die Analysen zur besseren Versorgungssteuerung freigeben. Derzeit stehen wir noch ganz am Anfang. Seit 2021 hat jeder gesetzlich Versicherte ein Recht auf eine elektronische Patientenakte ePA, in der alle Behandlungsdaten abgespeichert werden und für den Patienten und nach dessen Freigabe auch für Behandler einsehbar sind. Heute nehmen lediglich 605.000 von rund 72 Millionen gesetzlich Versicherter von diesem Recht Gebrauch (7).

Dank Real World Daten Patientenalltag besser verstehen

Die medizinische Forschung steht vor einem Umbruch, Evidenz wird nicht mehr nur in klinischen Studien generiert, die Auswertung vieler tausender „Mini-Studien“, in denen Versorgungsdaten von Patienten-Subgruppen analysiert werden, schafft neue, vermutlich weit aussagekräftigere Ergebnisse über den Nutzen von therapeutischen Interventionen. Diese sog. Real World Evidenz kann viele Einflussgrößen wie Adhärenz, unterstützendes soziales Umfeld, die Möglichkeiten und Ressourcen sowie die Präferenzen der Patienten mit einbeziehen, um abzuleiten, welche Therapie bei welchen Patienten wie gut wirkt.

Datenspende – schon heute möglich

Den Rechtsrahmen schaffen eine ganze Reihe von „Digitalisierungs-Gesetzen“, darunter das Patientendatenschutzgesetz (PDSG), das z. B. den Anspruch eines jeden Versicherten auf die Nutzung einer elektronischen Patientenakte regelt sowie die Hoheit über die Nutzung seiner Gesundheitsdaten bzw. die Möglichkeit zur freiwilligen Datenspende (6). Auch der Kreis derer, die mit diesen sog. Routinedaten aus der Versorgung Forschung betreiben dürfen, wurde mit diesem Gesetz geregelt, die Forschungsabteilungen von Unternehmen sind nach derzeitigem Recht ausgeschlossen.

Qualität und Verfügbarkeit digitalisierter Versorgungsdaten verbessern

Art und Qualität der Gesundheitsdaten – pseudonymisiert, „unverrauscht" und möglichst aktuell –  sind für die Aussagekraft der daraus abgeleiteten Forschungserkenntnisse von enormer Bedeutung. In einem neuen Gesetz – dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz (8) – sollen deshalb die Rahmenbedingungen für bessere Datenqualität und schnellere Verfügbarkeit von Routinedaten aus der Versorgung für die Forschung konkretisiert werden. Hürden durch föderale Datenschutz- und Datensicherheitsstrukturen, die den Forschungsstandort Deutschland schwächen, sollen abgebaut und das Recht von Patienten auf Nutzung ihrer gesundheitsbezogenen Daten für eine bessere gesundheitliche Daseinsfürsorge stärker berücksichtigt werden.

Mit digitaler Identität ePA, eRezept und DiGAs einfacher nutzen 

In ePAs, DiGAs und DiPAs (digitale Pflegeanwendungen) und dem eRezept werden Verordnungs- bzw. Behandlungsdaten standardisiert, maschinenlesbar und auswertbar erfasst. Damit Patienten diese Anwendungen so intuitiv nutzen können, wie sie es von Transaktionen mit ihrem Bankkonto oder von den Einkäufen in Webshops kennen, sollen sie sich zukünftig mit einer Gesundheits-ID ausweisen können (8). Versicherten loggen sich damit ein und können dann in mobilen Apps e-Rezepte einlösen oder auf ihre Patientenakte zugreifen. Ab 2024 sollen alle Versicherten eine digitale Identität erhalten, die Nutzung bleibt freiwillig. Ab 2026 wir die elektronische Gesundheitskarte (eGK) als Versicherungsnachweis dann ganz durch die neue digitale Identität ersetzt und kann z. B. bei Haus- und Heimbesuchen zur Identifizierung genutzt werden (9).

Gesundheitsdaten von 440 Mio. Europäer fließen zusammen

Im europäischen Miteinander soll bis 2025 ein Europäischer Gesundheitsdatenraum (European Health Data Space EHDS) entstehen, der es Bürgern möglich macht, auf ihre Gesundheitsdaten europaweit zuzugreifen, sie dort mit Therapeuten zu teilen und diese Daten für die Forschung ebenfalls europaweit nutzbar zu machen (10,11). Voraussetzung für das Gelingen sind einheitliche semantische Standards, mit denen z. B. Diagnosen oder therapeutische Leistungen maschinenlesbar dokumentiert werden (z. B. SNOMED CT), sowie Interoperabilitätsstandards „FHIR“® (Fast Healthcare Interoperability Resources, ausgesprochen wie englisch fire) der von Health Level Seven International (HL7) ins Leben gerufen wurde. Der Standard unterstützt den Datenaustausch zwischen Softwaresystemen im Gesundheitswesen und soll den sicheren Datenaustausch zwischen Leistungserbringern und Patienten europaweit ermöglichen. Die Implementierung dieser Standards treibt in Deutschland die Medizininformatik Initiative (MII) voran und ein eigens gegründetes Interop-Council aus Experten aus den Bereichen Medizin, Pflege und Informatik, Wissenschaft und Wirtschaft (12). Dieses Gremium entwickelt u. a. auch Use Cases, um die Digitalisierung in der Gesundheitsforschung voranzubringen und die Zusammenarbeit der Datenintegrationszentren (DIZ) an den universitätsmedizinischen Standorten zu fördern (13).

Blick in die Zukunft: Bessere Gesundheitsversorgung durch bessere Datennutzung

Fazit: Ohne Gesundheitsdaten in einer maschinenlesbaren, -auswertbaren und teilbaren Form zu generieren, gibt es für Bürger keinen Nutzen aus diesen Daten. Und nur wenn möglichst viele Bürger in Deutschland und Europa auf diese Weise ihre Gesundheitsdaten erfassen, lässt sich das volle Potential an neuen Erkenntnissen entfalten, um die Versorgung des Einzelnen zu verbessern und zu individualisieren, aber auch um Krankheiten wie Demenz, Krebs, Diabetes besser zu verstehen und sie perspektivisch durch geeignete Präventionsmaßnahmen irgendwann vielleicht sogar ganz verhindern zu können. Auch die Finanzierung unserer ambulanten und stationären Versorgungsstrukturen lässt sich auf einer guten Datenbasis besser als bisher steuern.

Nur wenn Bürger darauf vertrauen können, dass ihre Gesundheitsdaten sicher sind und der Bürger selbst die Hoheit über seine Gesundheitsdaten behält, bzw. kein Nachteil durch deren Analyse entsteht, werden sie dazu bereit sein ihre Behandlungsdaten und die Daten aus Apps und Wearables in ihren elektronischen Patientenakten abzulegen. Deshalb brauchen wir Aufklärung, die die Sinnhaftigkeit der strukturierten Erfassung und Auswertung von Gesundheitsdaten vermittelt und nutzenstiftende Anwendungen wie digitale Impfausweise, digitale Medikationsanalyse, digitale Diagnose-Tools, digitale Therapien, digitale Notfalldaten etc., die die Vorteile individuell erlebbar machen.

Quellen

  1. DiGA Dashboard, Stand 23.02.2023 Gesundheits-Apps: DiGA Dashboard | HealthOn
  2. DiGA-Bericht GKV-Spitzenverband https://www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/krankenversicherung_1/telematik/digitales/2022_DiGA_Bericht_BMG.pdf 
  3. Digitale-Versorgung Gesetz https://www.bundesgesundheitsministerium.de/digitale-versorgung-gesetz.html
  4. Gesundheitskosten steigen OECD-weit schneller als das Bruttoinlandsprodukt https://www.oecd.org/berlin/presse/gesundheitskosten-steigen-oecd-weit-schneller-als-das-bruttoinlandsprodukt-07112019.htm  
  5. Towards harmonised EU Landscape for Digital Health: Summary of the roundtable discussion in selected EIT Health InnoStars countries. https://eithealth.eu/wp-content/uploads/2023/01/EIT_Health_DiGA_report_Jan2023.pdf  
  6. Patientendatenschutzgesetz PDSG https://www.bundesgesundheitsministerium.de/patientendaten-schutz-gesetz.html 
  7. Gematik TI-Dashboard ePA https://www.gematik.de/telematikinfrastruktur/ti-dashboard
  8. Zustimmung im Bundesrat zur Ausgestaltung eines Gesundheitsdatennutzungsgesetzes 12/2022 https://sozialministerium.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/zustimmung-im-bundesrat-zur-ausgestaltung-eines-gesundheitsdatennutzungsgesetzes
  9. Digitale Identität als Alternative zur elektronischen Gesundheitskarte 10.02.2023 https://www.gematik.de/newsroom/news-detail/pressemitteilung-digitale-identitaet-als-alternative-zur-elektronischen-gesundheitskarte
  10. Bevölkerung in Europa 2022 https://www.destatis.de/Europa/DE/Thema/Basistabelle/Bevoelkerung.html
  11. Europäischer Raum für Gesundheitsdaten (EHDS) https://health.ec.europa.eu/ehealth-digital-health-and-care/european-health-data-space_de   
  12. Interop Council - Roadmap 2023-24 Roadmap des Interop Councils: ina (gematik.de)
  13. https://www.medizininformatik-initiative.de/de/medizininformatik-initiative-neue-use-cases-gefoerdert

 

HealthOn - Experten in Sachen Digital Health

Dr. Ursula Kramer - Die Ap(p)othekerin bloggt auf HealthOn

DiGA-Expertin, Autorin, Beraterin

Die Vision eines gerechten, patientenorientierten Gesundheitssystems treibt die Ap(p)othekerin Dr. Ursula Kramer an. Digitalisierung sieht sie als Möglichkeit, diesem Ziel näher zu kommen. Seit 2011 testet sie Qualität, Sicherheit und Anwenderfreundlichkeit von Gesundheits-Apps, Medizin-Apps und Apps auf Rezept (DiGA). Sie will Transparenz schaffen und digitale Gesundheitskompetenz fördern. Sie teilt die Erfahrung aus der Analyse vieler tausender Gesundheits-Apps in der Beratung von Unternehmen, sie schreibt darüber im Blog auf HealthOn, hält Vorträge und erstellt wissenschaftliche Publikationen. Mehr zur Ap(p)othekerin Dr. Ursula Kramer...